Chinas gewisses Interesse an Rechtsstaatlichkeit
Die deutsch-chinesischen Beziehungen erleben eine Blütezeit. Aber sind Angela Merkel und Li Keqiang, die sich am Freitag in Berlin treffen, auch Innovationspartner für mehr Freiheit und rechtsstaatliche Reformen?
Berlin ist in Peking in. Sonderseiten in chinesischen Zeitungen preisen Deutschland und rufen 2015 zum "chinesisch-deutschen Innovationsjahr" aus. Auf Titelbildern werden Fotos von Angela Merkel und Joachim Gauck als Repräsentanten von 25 Jahren Wiedervereinigung gedruckt. Die "Beijing News" handelt die Frage ab, wie eng die beiderseitigen Beziehungen eigentlich noch werden können.
Chinas Presse feierte eine am Freitag in Berlin geplante gemeinsame Kabinettssitzung der beiden Regierungen, zu der Premier Li Keqiang mit 15 seiner Minister anreiste, als "beispiellos". Neben 20 Regierungsabkommen und Wirtschaftsverträgen sei eine zum Beschluss anstehende Innovationspartnerschaft der Haupt-Tagesordnungspunkt zwischen Premier und Kanzlerin. China Daily nannte sie einen "Meilenstein für die Kooperation in den kommenden fünf bis zehn Jahren".
Sie sei ein "Programm für die Zukunft". Die Nachrichtenagentur "Xinhua" zitierte Chinas Botschafter in Berlin, Shi Mingde: Peking wolle sich an Deutschlands "vierter industrieller Revolution" und an den Plan "Industrie 4.0" ankoppeln. Vizeaußenminister Wang Zhao stellte konkrete Wünsche an die neue Innovationszusammenarbeit. Die Volksrepublik setze bei ihrer wirtschaftlichen Transformation auf Deutschlands Hilfe und Expertise bei der Modernisierung der Industrie, der Wissenschaft und Technologie, in der Landwirtschaft, der Erziehung, im Umweltschutz, bei der Urbanisierung, im Medizinwesen und der sozialen Wohlfahrt.
Hoffnungen auf gesellschaftliche Reformen
Hoffnungen hegen dagegen chinesische Bürger- und Verfassungsrechtler, Juristen und Sozialwissenschaftler, dass mit der Innovationspartnerschaft nicht nur Technologietransfer und -austausch gemeint sind. Berlin mühte sich in sechsmonatigen zähen Verhandlungen seit März um Pekings aktive Bereitschaft, auch auf "weicheren" Gebieten mit Deutschland zu kooperieren, in denen die Volksrepublik ebenfalls dringenden Erneuerungsbedarf hat.
Gemeint ist die Entwicklung von Rechtsstaat und Gesellschaft, die Medien- und Internetzensur, der Umgang mit Minoritäten in Tibet und Xinjiang, oder mit den Menschenrechten, bei denen sich Peking bisher jede Einmischung verbietet. Beide Seiten verrieten bis Freitag nicht, wie viel sich davon im 20 Seiten umfassenden Innovationsprogramm wiederfindet.
In Chinas Gerichtspraxis geht es besonders bei der politischen Justiz wenig rechtsstaatlich zu. Jüngste Willkürakte, wie die Verurteilung des Pekinger Universitätsdozenten Ilham Tohti durch das mittlere Volksgericht in Ürümqi wegen Separatismus zu lebenslanger Haft, haben westliche Regierungen und Berlin schockiert. Tohti hatte sich immer als Vermittler zwischen Peking und den Uiguren eingesetzt, nie für die Unabhängigkeit Xinjiangs plädiert. Premier Li wird bei seiner Europareise nach dem Fall gefragt werden. Anwalt Liu Xiaoyuan glaubt nicht, dass solche Nachfragen seinem Mandanten schaden.
"Viel helfen werden sie ihm aber wohl auch nicht", sagte er der "Welt". Er nehme an, dass an Tohti ein Exempel statuiert werden sollte. Die Berufung von Tohti gegen das Urteil sei wegen der Nationalfeiertage noch nicht zur nächsthöheren Instanz gegangen. Diese müsste innerhalb von zwei Monaten entscheiden, ob sie das Urteil abändert.
Fälle von Abschreckung und Einschüchterung häufen sich
Er sei nicht optimistisch. Keiner der Vorwürfe, für die er verurteilt wurde, sei juristisch haltbar. So soll Tohti Kopf einer Separatistenbande gewesen sein. Aber die in Peking mit ihm Festgenommenen waren Studenten von ihm, die an seiner kritischen Webseite mitarbeiteten. Alle ihm vorgeworfenen Reden stammten aus seinen Vorlesungen oder aus Interviews mit Journalisten. Sie seien seine Meinungsäußerungen zur Pekinger Politik in Xinjiang, aber eben keine separatistischen Handlungen oder Aufrufe.
Fälle von bestürzenden Abschreckungsurteilen oder polizeiliche Einschüchterungen häufen sich. Seit mehr als vier Monaten sitzt etwa der bekannte Menschenrechtsanwalt Pu Zhiqiang als Verhafteter ohne öffentlich gemachte konkrete Anschuldigung in Verhörhaft. Auch jüngste Festnahmen von Bloggern oder Journalisten, die Sympathiebekundungen mit den demonstrierenden Hongkonger Studenten verbreiteten, darunter die Pekinger Mitarbeiterin der "Zeit", Zhang Miao, zeigen, wie rüde die Behörden mit Recht und Gesetz umgehen, sagen Juristen.
Auch der Sonderparteitag, der am 20. Oktober unmittelbar nach der Rückkehr von Premier Li von seiner Europareise beginnen soll, dürfte nach Einschätzung von Beobachtern wenig daran ändern. Chinas Führung hat im Vorfeld von geplanten wichtigen Beschlüssen auf ihrem ZK-Plenum gesprochen, um das Rechtssystem zu verbessern. Es soll mit der geplanten weiteren Öffnung Chinas und neuen marktwirtschaftlichen Reformen kompatibel gemacht werden und Garantien zu deren Schutz bieten.
Rechtssicherheit für ausländische Unternehmen
Anwalt Liu sieht nicht, dass der Gedanke an mehr Rechtsstaat bei dem Plenum Regie führt. Im Vordergrund würden vermutlich Strukturreformen zur Justiz stehen, um das Verhältnis und die Effizienz zwischen übergeordneten und nachrangigeren Gerichten zu verbessern. Mit den Vorbereitungen für das ZK-Plenum vertraute Beobachter in Peking sagten, dass es der Partei vor allem um mehr institutionalisierte Rechtssicherheit in Geschäftsdingen oder für den Vertragsschutz gehe. Davon sollen in Zukunft kommerzielle Unternehmungen oder Wirtschaftspartner profitieren. Peking wolle so seinen Abstand zum rechtssicheren Hongkong verringern.
Wie viel Nachholbedarf in selbst einfachen Fragen der Rechtssicherheit besteht, zeigte die jüngste Pekinger Kampagne der Antimonopolverfahren. Von der Sache her waren die Vorwürfe der Kartellwächter berechtigt. Formal richteten sie sich sowohl gegen ausländische wie chinesische Unternehmen. Doch mit intransparenten Entscheidungen, bürokratischem Vorgehen und Kompetenzwirrwarr standen wichtige Firmen am Prangen, US-Hersteller und japanische und deutsche Autokonzerne, von Audi über Mercedes bis BMW. Investoren mussten den Eindruck gewinnen, dass Peking willkürlich vor allem Ausländer verfolgen lässt.