Diplomatie wird im Ukraine-Krieg durch zweifelhafte Moral ersetzt, immer mehr Waffen werden geliefert und am Ende schaden die Sanktionen vor allem uns. Ein Gastbeitrag.
Sevim Dagdelen
01.09.2023 | 05:43 Uhr
Von deutschem Boden muss wieder Frieden ausgehen. Das war die Maxime des früheren Bundeskanzlers
Willy Brandt. Das bedeutete, dass keine deutschen Truppen ins Ausland entsendet wurden, unter welcher Begründung auch immer.
Rüstungsexporte in Kriegsgebiete unterblieben und trotz des Systemgegensatzes mit der Sowjetunion, auch nach der Invasion in der Tschechoslowakei, galt: Annäherung durch Handel. Während die Falken in Washington dem Wirtschaftskrieg das Wort redeten, setzte Brandt im Interesse der Bevölkerung Deutschlands ganz andere Akzente. Diplomatie statt Eskalation, so könnte man die Politik Brandts kennzeichnen.
Heute aber, am 84. Jahrestag des Überfalls Nazideutschlands auf Polen, ist von dieser Erkenntnis nichts mehr übrig. Die Zeichen stehen auf Sturm.
Absichten und Ergebnisse von Politik können weit auseinanderfallen. Dies hat auch die Bundesregierung im Hinblick auf den Krieg in der
Ukraine erfahren müssen. Die deutschen Waffenlieferungen sollten helfen, den Kriegsverlauf zu ändern und Russland niederzuringen. Die Sanktionen sollten die russische Wirtschaft massiv treffen und zu einer Korrektur der Politik Moskaus führen. Beides ist nicht geschehen. Stattdessen hat die Bundesregierung Entwicklungen gefördert, die auch hinsichtlich ihrer Ziele geradezu kontraproduktiv scheinen und die Gefahr in sich bergen, Deutschland am Ende doch noch direkt am Krieg zu beteiligen.
Außenministerin Annalena Baerbock äußerte sich jüngst
enttäuscht von der Wirksamkeit der Russland-Sanktionen. Anders als von ihr erhofft, wird Russland nicht ruiniert. Die Folgen der Sanktionen zeigen sich sehr wohl, aber bei uns. Während Deutschlands Wirtschaft im vergangenen Quartal um 0,3 Prozent einbrach und auch für die Eurozone Stagnation droht, wird Russland mittlerweile ein Wachstum von jährlich 2,5 Prozent prognostiziert. Oft aber verstellt ein gnadenloser Idealismus in der deutschen Debatte den Blick für Realitäten.
Ist das der Preis der Freiheit, von dem Christian Lindner spricht?
Um Russland zu ruinieren, wird auf die lange Wirkung der völkerrechtswidrigen Strafmaßnahmen gehofft.
Doch die Wirklichkeit ist eine andere. Selbst die russische Autoindustrie erholt sich. Für die deutschen Hersteller, die Russland verlassen, springen chinesische Firmen ein. Alles deutet darauf hin, dass sich für Russland wie bei der Landwirtschaft infolge der Sanktionen ab 2014 mittelfristig ein massiver Zugewinn an Souveränität und Innovation einstellt. Für Deutschland aber droht allein der heute dreimal so hohe Strompreis wie in den USA zum Industriekiller zu werden. Hunderttausende Arbeitsplätze stehen auf dem Spiel, die Schlangen an den Tafeln werden länger und immer mehr Menschen können die gestiegenen Preise für Lebensmittel und Energie nicht mehr bezahlen. Ist dies der Preis der Freiheit, von dem Finanzminister Lindner immer wieder spricht?
Fünf Milliarden Euro deutsche Steuergelder hat der FDP-Finanzminister Kiew jährlich zusätzlich als Waffenhilfe bis 2027 zugesagt. Die Ausgaben für Verteidigung in Deutschland sollen auf zwei Prozent des BIP steigen, 70 bis 80 Milliarden Euro jährlich. Geld, das sicherlich anderswo fehlt. So werden die gerade beschlossenen 2,4 Milliarden Euro für
Kindergrundsicherung nicht dafür sorgen, dass die Kinderarmut beseitigt wird.
Die Sanktionen stärken paradoxerweise Russland, während die deutsche Wirtschaft sehenden Auges ruiniert wird. Und das Schlimmste kommt erst noch: So hatte das Statistische Bundesamt im Juli 2023 fast ein Viertel mehr Anträge von Unternehmen auf Regelinsolvenzverfahren von Unternehmen als im Vorjahresmonat registriert. Die Wirtschaftsauskunftsdatei Creditreform rechnet mit einer massiven Verschärfung der Situation in den kommenden Monaten.
Der Krieg führt zur größten Umverteilung von unten nach oben
Die Bundesregierung agiert hier wie ein Kamikazeflieger, ersetzt Politik durch eine zweifelhafte Moral und freut sich über freundliches Kopfnicken aus Washington. Verknüpft mit der Sanktionspolitik als Inflationstreiber, bei Nahrungsmitteln gab es im Juni 2023 erneut einen Preisanstieg von 13,7 Prozent, sprudeln die Gewinne für die Dax-Konzerne im Vergleich der westlichen Industriestaaten besonders stark. Während die Beschäftigten einen Reallohnverlust von vier Prozent zu erleiden hatten, strichen allein diese 40 börsennotierten Unternehmen im letzten Jahr Rekordgewinne von 171 Milliarden Euro ein. So wird der Krieg zur größten Umverteilaktion in Deutschland von unten nach oben seit 1945.
Noch mehr Diskrepanzen gibt es bei den deutschen Waffenlieferungen, die nichts anderes als ein Element im Stellvertreterkrieg der Nato in der Ukraine sind. Angefangen hatte es mit ein paar Tausend Schutzhelmen, heute geht die Diskussion um die Lieferung von
Taurus-Marschflugkörpern, während fast jeden Tag deutsche Leopard-Panzer in der Ukraine zerstört werden. Auf 22 Milliarden Euro beläuft sich die deutsche Ukraine-Unterstützung mittlerweile insgesamt.
Die vom Westen eingeforderte militärische Offensive der Ukraine hat laut New York Times 70.000 tote ukrainische Soldaten gefordert, bei wenigen Kilometern an Geländegewinnen. Auch die Lieferung von neuen Waffen-Systemen wie F16-Kampfjets oder von Marschflugkörpern wird am Verlauf des Krieges nichts Wesentliches ändern.
Die Bundesregierung will von Diplomatie nichts wissen
In der Bevölkerung nimmt die Skepsis gegenüber der immer massiveren militärischen Unterstützung rapide zu. In den USA fällt die Zustimmung zu einem Nato-Beitritt der Ukraine rapide und in Deutschland sprechen sich 55 Prozent für die sofortige Aufnahme von Gesprächen mit dem Ziel eines Kriegsendes aus.
Die Bundesregierung will von Diplomatie jedoch nichts wissen. Weder nimmt sie die Resolution des UN-Menschenrechtsrats zur Kenntnis, die die westlichen Sanktionen als völkerrechtswidrigen Gewaltakt geißelt, noch die jüngste Resolution der
Brics-Staaten beim Gipfel in Südafrika, die den Wirtschaftskrieg der USA und ihrer Verbündeten zum Anlass schärfster Kritik nimmt.
Auch die Hochrüstung der Truppenstützpunkte der USA für den Stellvertreterkrieg in der Ukraine – neben Ramstein auch Miesau in Rheinland-Pfalz, größtes Munitionsdepot außerhalb der USA, über das in großen Teilen der Nachschub für Kiew läuft – wird durchgewunken und großzügig mitfinanziert. An der Errichtung des neuen amerikanischen Militärkrankenhauses in Weilersbach, dem größten außerhalb der Vereinigten Staaten, beteiligt sich der Bund mit 151 Millionen Euro an Steuergeldern, während Gesundheitsminister Karl Lauterbach gleichzeitig bundesweit Kliniken dichtmachen will. Und wenn Washington nicht nur seine mittlerweile über 100.000 Mann starken Truppen in Europa aufstockt, sondern eine Stationierung der Bundeswehr mit 4500 Soldaten im Rahmen der Nato an der russischen Grenze in Litauen nahelegt, steht man Gewehr bei Fuß, ungeachtet der Gefährdungen, die dies für die Sicherheit der Bevölkerung in Deutschland mit sich bringt.
Nord-Stream-Aufklärung mit angezogener Handbremse
Berlin sucht sein Heil allein in der Rolle eines Satelliten Washingtons, so scheint es. Die Aufklärung der Terroranschläge auf die
Nord-Stream-Pipelines, für die die USA wie die Ukraine verantwortlich gemacht werden, erfolgt mit angezogener Handbremse, und wenn Washington nach einer Verschärfung des Kurses gegenüber China ruft, stehen insbesondere Grüne und FDP in der Ampel bereit, hier sogleich zu sekundieren. Der Ansatz einer Außenpolitik im Interesse der Bevölkerung in Deutschland scheint völlig in den Hintergrund gerückt zu sein. Dabei wäre eine Reparatur und Wiederinbetriebnahme von Nord Stream naheliegend.
Bei Strafe des eigenen Niedergangs ist man so verdammt, eine Politik der USA zu begleiten, die durch ihre Politik der Nato-Expansion und der Interventionskriege in den vergangenen 20 Jahren eine Koalition gegen den Westen geradezu heraufbeschworen hat. Mit den Brics-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika, deren Zusammenschluss nun um Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Iran, Ägypten, Äthiopien und Argentinien erweitert wird, entsteht für immer mehr Länder im globalen Süden eine Alternative – auch durch die Kreditvergaben der Brics-Bank in Shanghai. Die Brics-Plus-Staaten haben einen Anteil von 37 Prozent am Weltbruttosozialprodukt. Was die Weltleitwährungen angeht, wird eine langfristige Ablösung des Dollar vorbereitet. Der Bedeutungsverlust des Euro ist bereits dramatisch, sein Anteil im internationalen Zahlungsverkehr über Swift ist im Juli auf einen historisch niedrigen Wert von 24,4 Prozent gesunken.
Der Friedenspolitik heute gerecht zu werden, hieße, die massiven Veränderungen in der Welt überhaupt wahrzunehmen und auf die neue Multipolarität entsprechend zu reagieren. Wer denkt, dass er sich mit Doppelmoral und Realitätsverweigerung weiter durchwursteln kann, dem drohen noch größere Enttäuschungen. Deutschland und Europa brauchen eine souveräne Außenpolitik, die sich nicht weiter den USA und der Nato unterordnet. Die Friedensinitiative der Brics zu unterstützen, wäre ein erster Schritt, sich von einer sozial und friedenspolitisch fatalen Bevormundung der USA zu befreien. Es hieße: Mehr demokratische Souveränität wagen! Kein Krieg ist unser Krieg, auch dieser nicht.
Sevim Dagdelen ist Mitglied des Deutschen Bundestages